texte von und für lothar willmann

Im Atelier

Einen Dornenkranz auf dem Kopf, so schwebt der Körper im Raum. Aus der großen Nase und dem weit aufgerissenen Mund quellen rote Rinnsale. Die Augen scheinen gebrochen. Hände und Füße sind voller Narben, aus der Brust fließt das Blut in dunkelroten Strömen.
Heute soll seine Skulptur fertig werden. Seit langem schon arbeitet Bo an diesem Werk, es soll in eine Kunstausstellung von Bildhauern und Malern, die unter dem Thema stehen wird: „Wer rettet die Menschen vor ihrem Verfall, vor dem Nichtsein in der gegenwärtigen Gesellschaft?“ Nachdem Bo die Figur aus einem dicken Buchenstamm gehauen hatte, beginnt er, sie zu bemalen, mit Ölfarben, gemischt mit Tempera und schwarzen Pigmenten. Im Atelier riecht es nach Terpentin und frisch geschnittenem Holz.
Wie ein wütender Tiger läuft Bo um seine Figur herum. Als er denkt, so könnte sie in der Ausstellung ihre Aura entfalten, nagelt er diese auf eine große Kugel, unterlegt viel Heu und dicke Strohballen, streicht sie in Regenbogenfarben an, tritt einige Schritte zurück, um sein Werk nochmals genau zu betrachten. Viele Minuten steht er davor, die Hände voller Ölfarben, das Messer nach vorn auf sein Werk gerichtet, den Kopf in den Nacken gelegt. Die Augen vor Überanstrengung gerötet; wie verrückt geworden, greift er mit beiden Händen in seine Haare. Plötzlich schreit er seine fertige Skulptur an: „Du Hund, willst du endlich reden!“
Völlig erschöpft liegt Bo in seinem Atelier auf dem Fußboden. Stunden später öffnet er die Augen, der Blick fällt zuallererst auf seine Schöpfung. Sie lächelt.


24.11.2010 17:31:13

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